Das Wichtigste im Überblick
Die Zahl der tödlichen Unfälle am Stauende nimmt von Jahr zu Jahr zu. Dafür gibt es viele Gründe: der ständig zunehmende Verkehr, die überlastete Infrastruktur, abgelenkte und übermüdete Lkw-Fahrerinnen und -Fahrer und auch das fehlende Bewusstsein für 40 Tonnen Verantwortung. Was kann man dagegen tun? Strengere Polizeikontrollen, bessere Schulungen und ein bundesweiter Pakt für Verkehrssicherheit könnten Abbhilfe schaffen. so die Experten Jan Bergrath und Dieter Schäfer.
Im Gespräch: Jan Bergrath und Dieter Schäfer
Die Zahl der tödlichen Unfälle am Stauende nimmt von Jahr zu Jahr zu. Was sind die Gründe dafür, und was können die Beteiligten dagegen unternehmen? Der Fachjournalist Jan Bergrath und der ehemalige Polizeichef Dieter Schäfer haben sich dazu ihre Gedanken gemacht. Im Expertengespräch von „HUNDERT PROZENT“ tauschen sie ihre Ideen für mehr Verkehrssicherheit aus.
Jan Bergrath: Schön, wieder einmal mit Ihnen zu sprechen, Herr Schäfer. Ich muss Ihnen etwas erzählen. Ich führe eine private Statistik über Lkw-Unfälle am Stauende. Diese Unfälle führt das Statistische Bundesamt leider nicht auf. Vor zwei Jahren wurden dabei 45 Lkw-Fahrer und -Fahrerinnen getötet, im vergangenen Jahr 48, und in diesem Jahr sind es nach sechs Monaten bereits 44 Fahrer. Die Zahl der tödlichen Unfälle am Stauende nimmt also zu. Können Sie mir dafür Gründe nennen?
Dieter Schäfer: Das wundert mich überhaupt nicht. Deutschland ist ein Transitland, der Verkehr nimmt ständig zu und unsere Infrastruktur ist völlig überlastet. Allein 5.000 Autobahnbrücken sind sanierungsbedürftig, und die Stauwarner sind veraltet. Schon durch die enorme Verkehrsmenge entstehen täglich Verkehrsunfälle mit Todesgefahren. Aber das sind nicht die einzigen Gründe für die Verkehrsunfälle.
Jan Bergrath: Das stimmt. Viele Lkw-Fahrer erkennen das Stauende nicht, weil sie abgelenkt und übermüdet sind und ihnen deswegen die Aufmerksamkeit fehlt.
Dieter Schäfer: Es gibt aber noch weitere Gründe für diese schweren Unfälle. Durch die engen Zeitfenster in der Logistik stehen die Fahrer und Fahrerinnen enorm unter Zeitdruck. Sie müssen Gas geben. Staus sind in diesem Zeitfenster gar nicht eingeplant. Durch diesen Zeitstress schlafen die Fahrer schlecht und neigen zum Sekundenschlaf. Die Folgen können auf der Autobahn verheerend sein. Während eines Sekundenschlafs von nur zwei Sekunden, legt ein Lkw-Fahrer mit seinem Fahrzeug bei einer zugelassenen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h fast 45 Meter unkontrolliert zurück.
Jan Bergrath: Der schlechte Schlaf hängt auch mit der mangelnden Qualität von Pausen zusammen. Ab 17 Uhr fehlen auf deutschen Autobahnen mehr als 34.000 Parkplätze für Lkw. Das ist eine Katastrophe. Außerdem ist der Fahreralltag heute eintönig und öde. Die Fahrer lenken sich deshalb während der Fahrt durch Facebook & Co. ab. Das kann leider zur Sucht werden, die eine Gefahr für alle Verkehrsteilnehmer, auch für Autofahrer, ist.
Dieter Schäfer: Deswegen müssen wir alle Beteiligten auf die Unfallrisiken direkt ansprechen und zwar nicht nur die Lkw-Fahrer, sondern auch ihre Arbeitgeber und deren Kunden. Es muss die Einsicht wachsen, dass die Gesundheit der Fahrer ein hohes Gut ist. Dieses Denken muss bereits an den 100.000 Rampen in Deutschland beginnen. Ihre Öffnungszeiten müssen flexibler gehandhabt werden. Sie sollten freitags nicht pünktlich um 12 Uhr geschlossen werden. Dann hat der Fahrer, der erst gegen 12.05 Uhr eintrifft, noch eine Chance, seine Ware vom Fahrzeug zu entladen. Das entlastet ihn von seinem ungeheuren Zeitdruck.
Jan Bergrath: Ich kenne allerdings viele Spediteure und Betreiber von Lkw-Flotten, die sehr auf die Sicherheit und Gesundheit ihrer Fahrerinnen und Fahrer achten. Doch wir haben noch ein weiteres Problem: Viele Berufskraftfahrer, vor allem die gut ausgebildeten, suchen sich einen anderen Job. Und die Jüngeren wollen sich dem Stress des Berufs gar nicht mehr aussetzen. Dass dieser Beruf krankmacht, machen folgende Zahlen deutlich: Im vergangenen Jahr starben acht Fahrer mit Herzinfarkt am Steuer, einer davon war erst 33 Jahre alt.
Dieter Schäfer: Sie haben völlig recht: Der Lkw-Fahrer ist längst nicht mehr der Kapitän der Landstraße, weil auch die Konkurrenz untereinander wächst. So nehmen inzwischen die Abstandsverstöße zu, weil man einen Überholenden nicht einscheren lassen will und das Gefühl hat, mit seinem Fahrzeug nach hinten durchgereicht zu werden. Kaum einer achtet mehr auf den anderen. Dagegen kann nur eine breit angelegte Kampagne wie „Hellwach mit 80km/h“ helfen, die das Bewusstsein der Fahrer dafür schärft, dass sie 40-Tonnen-Verantwortung haben, und für gegenseitige Rücksichtnahme wirbt.
Jan Bergrath: Dieses Bewusstsein könnte auch geschärft werden, indem der Gesetzgeber noch mehr in bessere Schulungen investiert. Dem Bundesverkehrsministerium liegt dazu ein 7-Punkte-Plan vor, leider wurde er bisher nicht umgesetzt. Ein weiterer Aspekt sind strengere Kontrollen durch die Polizei. Das fordern übrigens die Fahrer selbst!
Dieter Schäfer: Aktuell wird weniger als ein Prozent des Güterkraftverkehrs durch die Polizei kontrolliert. Das EU-Ziel sind eigentlich vier Prozent. Das ist auch ein Nachteil des Transitlands Deutschland. Das hohe Verkehrsaufkommen ist von der Polizei schwer zu kontrollieren, und viele Verursacher von Verkehrsdelikten sind kaum innerhalb der sechsmonatigen Verjährungsfrist zu ermitteln. Das betrifft vor allem die Fahrer aus Osteuropa.
Jan Bergrath: Deswegen plädiere ich auch für einen anderen Ansatz: Wir brauchen einen bundesweiten Pakt für Verkehrssicherheit, an dem alle Akteure beteiligt sind, also Fahrer, Spediteure, Versicherungen, Berufsgenossenschaften und Gesetzgeber in Land und Bund. Daneben benötigen wir einen „Nationalen Koordinator“, der die unterschiedlichen Interessen und Zuständigkeiten im föderalen Deutschland bündelt und koordiniert.
Dieter Schäfer: Eine gute Idee. Vielleicht machen wir ja so den nächsten Schritt in Richtung intelligentes Verkehrsmanagement auf Deutschlands Autobahnen, damit Staus und die damit verbundenen Gefahrenquellen langfristig reduziert werden und die Sicherheit durch eine umsichtige und rücksichtsvolle Fahrweise aller Verkehrsteilnehmenden, also sowohl von den Lkw- als auch auch von den Autofahrern, gewährleistet werden kann. Möglich wäre das schon heute.