Das Wichtigste im Überblick
- Die Qualifikation für die Paralympischen Spiele 2024 in Paris hat Kim Cremer nur um Haaresbreite verfehlt. Jetzt konzentriert sich der Familienvater auf die Welt- und die Europameisterschaft im Paratriathlon, hat im Juli bereits den zweiten Platz beim World Triathlon Cup im ungarischen Tata erreicht.
- Nach einem Unfall auf dem Weg von der Arbeit nach Hause in 2013 und der Amputation des linken Unterschenkels 2017 hat der 37-Jährige den Sport als beste Therapie entdeckt.
- Mit den Triathleten des Vereins Mettmann-Sport startete er erste Trainingseinheiten. Inzwischen trainiert er mit den Sportlerinnen und Sportlern der Deutschen Nationalmannschaft im Paratriathlon.
- „Kim Cremer macht deutlich, wie wichtig gezielte sportliche Aktivitäten in der Rehabilitation sind", betont Marita Klinkert, Geschäftsführerin der BGHW und zuständig für den Bereich Rehabilitation und Leistungen.
Kim Cremer: Nach Amputation zur Weltspitze
„Aus einem Unfallopfer wurde ein Leistungssportler“, sagt Kim Cremer selbstironisch. Nach einem schweren Wegeunfall hat der 37-Jährige den Triathlon für sich entdeckt – als Therapie und Leidenschaft.
Die Qualifikation für die Paralympischen Spiele 2024 in Paris hat er nur um Haaresbreite verfehlt. Jetzt konzentriert sich Cremer auf die Welt- und die Europameisterschaft. Sein Ziel, 2024 mindestens einen Podiumsplatz zu erreichen, hat er bereits im Juli mit einem zweiten Rang beim World Triathlon Cup im ungarischen Tata erreicht. Dabei soll es aber nicht bleiben. Kim will mehr und arbeitet daran. Die BGHW begleitet ihn auf seinem Weg. Wir drücken ihm die Daumen!
Um 250 Prozent eskaliert
„Nach dem Unfall 2013 und der Amputation 2017 ist mein Leben im besten Sinne um 250 Prozent eskaliert“, erinnert sich Kim Cremer. Der Produktions- und Lagerarbeiter aus Mettmann war mit dem Motorrad auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, als ihm ein Pkw-Fahrer die Vorfahrt nahm. Durch den Zusammenstoß wurde sein linker Fuß zwischen Fußraste und Stoßstange zerquetscht. Es folgten schmerzhafte Jahre, die geprägt waren von Schmerzmitteln, psychischen Wechselbädern, von der Umschulung zum Groß- und Außenhandelskaufmann, 30 Operationen und der Amputation des linken Unterschenkels.
Was für Kim Cremer gleich nach dem Unfall sehr beruhigend und hilfreich war: „Ein Reha-Berater der BGHW besuchte mich im Krankenhaus, um mich über die Unterstützung durch die Berufsgenossenschaft, Therapien und Reha-Möglichkeiten zu informieren. Er begleitete mich in meinem neuen Dasein mit der Beeinträchtigung, beriet mich und half mir bei allen offenen Fragen, von der finanziellen Unterstützung bis hin zu beruflichen Möglichkeiten und dem Gespräch mit dem Arbeitgeber zum Thema Umschulung“, so Cremer. Die zugewandte und vertrauensvolle Begleitung der BGHW habe ihm Sicherheit gegeben.
Glücklich über die Entscheidung
Wenn er sich daran erinnere, wie es ihm vor der Amputation ging, sei er heute erleichtert und glücklich, diese Entscheidung getroffen zu haben. „Das Beste, was ich machen konnte“, bekräftigt Cremer. Davon sei inzwischen auch seine anfangs sehr skeptische Mutter überzeugt. Denn auch sie erlebte hautnah, dass das Leben ihres Sohnes in der Zeit zwischen dem Unfall und der Amputation von schier unerträglichen Schmerzen geprägt war. „Chronischer Schmerz ist zermürbend“, weiß der BGHW-Versicherte. „Die Situation war auch für die Familie schwer“, erinnert er sich. „Ich war unausstehlich. Wenn ich etwas unternommen habe, war ich nach einer Stunde total erschöpft und musste mich ausruhen. Egal wo, ob während der Umschulung oder bei Aktivitäten mit der Familie“, sagt er. „Der Fuß war kein Fuß, er war eine Stützhilfe und hat permanent geschmerzt“, betont er.
Amputation im Fokus
Als die Ärzte eine weitere Operation ins Gespräch brachten, sprach Cremer erstmals den Gedanken aus, der ihn schon länger beschäftigte: „Kann man den Fuß nicht abnehmen?“, fragte er im Frühsommer 2017 die Medizinerinnen und Mediziner der BG-Sprechstunde „Schmerzmedizin“ der BG Klinik Duisburg. Dort setzte man sich ernsthaft mit dieser Möglichkeit auseinander, stellte er erleichtert fest. „Ich mache alles mit, Hauptsache, diese extremen Schmerzen haben endlich ein Ende“, versprach er. Es folgte eine mehrwöchige Schmerztherapie. „Das Team war toll und hat alles probiert, um sicher zu gehen, dass dies der richtige Weg ist. Unter anderem wurden alternative Möglichkeiten auf Naturheilbasis erarbeitet.“, erinnert er sich. Etliche Gespräche und ein psychologisches Gutachten später stand die Entscheidung fest: Der linke Unterschenkel wird am 7. Juli 2017 in der BG Klinik Duisburg amputiert.
Schmerztagebuch für alle
„Ich hatte vor der Amputation mein Schmerztagebuch öffentlich gemacht, meine Gedanken und Erfahrungen für Freunde und Familie in einem Blog veröffentlicht. Das Schreiben war wie eine Therapie für mich“, weiß er heute. Er habe dadurch vieles mental verarbeiten können und zugleich – wisse er jetzt – anderen Menschen, die in ähnlichen Situationen waren, geholfen.
Immer mehr Menschen folgen seitdem seinen Alltagsschilderungen im Internet-Blog „Das Leben geht weiter, auch wenn es humpelt“ und seinen Aktivitäten auf Social Media. „Der Schmerz nach der Amputation war lächerlich im Vergleich zu den Schmerzen, die ich vor der OP hatte,“ beschreibt er auch in seinem Social-Media-Blog.
Für Körper, Psyche und Lebensgefühl
Während der Rehabilitation entdeckte Cremer den Sport als beste Therapie – für seinen Körper, seine Psyche und sein Lebensgefühl. Mit den Triathleten des Vereins Mettmann-Sport in seiner Heimatstadt startete er erste Trainingseinheiten. „Schwimmen, wenn kein Bein dran ist, das ist etwas anderes. Da muss man sich erst einmal dran gewöhnen“, so der Vater von drei Töchtern. Schnell machte Cremer durch hervorragende Trainingszeiten auf sich aufmerksam.
„Wir freuen uns über die Begeisterung und die Motivation, die der Rehasport auch bei unserem Versicherten Kim Cremer ausgelöst hat. Das macht deutlich, wie wichtig gezielte sportliche Aktivitäten in der Rehabilitation sind“, betont Marita Klinkert, Geschäftsführerin der BGHW und zuständig für den Bereich Rehabilitation und Leistungen. Der Reha- und Funktionssport spiele nach einem Arbeitsunfall oder bei einer Berufskrankheit eine wichtige Rolle, um bestmögliche Teilhabe in der Gemeinschaft und am Arbeitsleben zu erreichen. „Ebenso wie bei Kim Cremer hat der Rehabilitationssport einigen Versicherten der gesetzlichen Unfallversicherung den Weg in den Leistungssport geebnet,“ so Klinkert.
Kondition war der limitierende Faktor
So auch für Kim Cremer, der – endlich schmerzfrei – als angehender Paratriathlet seinen Körper neu spürte: „Es war zugleich knallhart. Nicht die Prothese, sondern meine Kondition war der limitierende Faktor“, stellt er fest. Über die Anschaffung einer Sportprothese lernte er Orthopädiemechaniker-Meister Thomas Kipping, seinen heutigen Arbeitgeber, kennen. Der Geschäftsführer des APT-Prothesen-Service betreute als Techniker unter anderem die paralympischen Leichtathleten. Begeistert vom Talent des 37-jährigen Familienvaters, stellte Kipping den Kontakt zur Deutschen Triathlon Union und dem Bundestrainer für Paratriathlon her. „Tom Kosmehl hat mich gleich mit offenen Armen empfangen“, erzählt Cremer, der inzwischen mit den Nationalsportlerinnen und -sportlern trainiert. „Ich bin zwar nicht der Überflieger, aber im Parasport habe ich die Möglichkeit, etwas zu erreichen“, sagt er.
Experte in eigener Sache
Herzlich willkommen ist der Social-Media-affine Groß- und Außenhandelskaufmann auch bei Thomas Kipping, der als Orthopädie-Techniker früher Mitglied des deutschen Nationalteams war. Der Geschäftsmann entdeckte Cremers Potenzial als Experte in eigener Sache. Gemeinsam schufen sie einen Arbeitsplatz für den sportlich ambitionierten Mann aus Mettmann. „Das war wirklich toll. Heute berate ich Prothesenträgerinnen und -träger und betreue die Medien-Aktivitäten“, schwärmt Cremer. Was ihn besonders freut: Seit seinem Unfall habe er – bis auf den Zusammenstoß am Tag des Unfalls – zwischenmenschlich nur positive Erfahrungen gemacht. Die Menschen, mit denen er zu tun hatte, seien alle sehr zugewandt und wohlwollend gewesen. „Das ist eine schöne Erfahrung“, sagt Cremer, der zurzeit Kurs nimmt auf weitere Podiumsplätze in der Welt- und in der Europameisterschaft der Paratriathleten. (rik)