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Mit Interview

Es wird keiner zum Supermann

ca. 3 Minuten Lesezeit

Das Wichtigste im Überblick

  • Zwei Experten im Gespräch: Ein Vertreter aus der Industrie und ein Mitarbeiter der BGHW berichten über ihre Erfahrungen mit Exoskeletten.
  • Die innovativen Assistenzsysteme haben sowohl Vorteile als auch Nachteile, darüber sind sich beide Experten einig. Wo besteht noch Optimierungsbedarf?
  • Dennoch ist ihr Einsatz sinnvoll, um Beschäftigte in Handel und Warenlogistik bei schwerer körperlicher Arbeit zu unterstützen und den Rücken zu schonen.
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Exoskelette – was ist Stand der neuen Technik? Erleben wir einen Boom oder eine Stagnation? Was haben Unternehmen, Anwender, Hersteller und Arbeitsschützer bisher gelernt? Was muss besser werden? Ein Erfahrungsaustausch mit Dr. Sönke Rössing, CEO von Ottobock ­ Bionic Exoskeletons, und Ralf Schick, Referatsleiter Physische Belastungen bei der BGHW.

Porträtbild von Dr. Sönke Rössing, CEO von Ottobock Bionic Exoskeletons
Dr. Sönke Rössing ist CEO von Ottobock Bionic Exoskeletons und verantwortlich für das Exoskelett-Geschäft des Healthcare-Unternehmens.

Sönke Rössing: Schön, Sie wiederzusehen, Herr Schick. Wussten Sie, dass in den 38 OECD-Ländern mehr als 130 Millionen Menschen physisch arbeiten. Das ist ein gewaltiges Potenzial für Exoskelette. Das zeigt auch der steil ansteigende Einsatz mit vielen begeisterten Early Adapters weltweit. Ich bin gespannt auf das weitere Wachstum und die Entwicklung dieser noch jungen Technologie. 

Ralf Schick: Ich kenne die Situation in Deutschland. Hier erleben wir derzeit keinen Boom. Der Hype war vor der Corona-Pandemie, als viele deutsche Unternehmen Exoskelette getestet und pilotiert haben. Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus den Testphasen zeigen, dass vieles noch optimiert werden muss, um die Akzeptanz bei den Nutzern zu erhöhen. 

Sönke Rössing: In der Tat schaut man inzwischen differenzierter auf Exoskelette. Das Interesse ist aber riesengroß. Das zeigen unsere Gespräche mit Unternehmen, denen wir erklären: Was sind Exoskelette, was können sie? Je mehr Aufklärung, desto besser. Besonders für den Mittelstand, der nach Orientierung bei unabhängigen Quellen sucht. Und da ist der „Leitfaden zur Evaluation von Exoskeletten“ der BGHW sehr hilfreich.  

Ralf Schick: Es war von Vorteil, dass wir das Thema Exoskelette von Anfang begleiten konnten und Hersteller, Wissenschaftler, -Arbeitsschützer und natürlich die potenziellen Anwender an einen Tisch gebracht haben.
Wir haben früh festgestellt, dass eine gute Kommunikation im Unternehmen mit den Beschäftigten, also den potenziellen Anwendern, stattfinden muss. Es ist eine Grundvoraussetzung, rechtzeitig alle Beteiligten einzubinden. Was haben wir noch gelernt? Ein Exoskelett muss passen. Die Tragenden müssen es akzeptieren. Es ist ein wesentliches Kriterium, das über den Erfolg oder Misserfolg einer Pilotierung von Exoskeletten entscheidet. Dabei spielen drei Parameter eine Rolle: erstens die Wirksamkeit – hilft das Exoskelett bei der Arbeit? Zweitens der Tragekomfort – drückt oder reibt es? Und drittens die Handhabung – wie schnell und einfach kann man es anziehen? Und da hat sich gezeigt: Es besteht Optimierungsbedarf! 

Vieles muss optimiert werden, um die Akzeptanz bei den Nutzern zu erhöhen.

Ralf Schick, Referatsleiter Physische Belastungen bei der BGHW
Porträtbild von Ralf Schick, Referatsleiter Physische Belastungen bei der BGHW
Ralf Schick ist Referatsleiter Physische Belastungen bei der BGHW und Ansprechpartner für Exoskelette auf Ebene der Berufsgenossenschaften.

Sönke Rössing: Ja, das ist so. Ein Exoskelett ist wie eine neue Maschine, für die ihre Anwender eine Anleitung brauchen. Und das fängt mit der Kommunikation an – und zwar über ganz banale Dinge: Wann wird das Exoskelett angezogen – in der Pause oder während der Arbeitszeit? Was passiert mit dem Exoskelett nach Schichtende – trägt das dann jemand anders? Am Anfang muss die Unternehmensführung klar sagen: Das machen wir jetzt, weil unsere Beschäftigten schmerz- und verletzungsfrei in den Feierabend gehen sollen. Neben Beschäftigten und Arbeitsschützern müssen noch andere im Umfeld abgeholt werden. Zum Beispiel diejenigen, die das Geld dafür ausgeben. Rechnet sich das Exoskelett für ein Unternehmen? Exoskelette haben ja auch einen produktiven Nutzen. Wenn man alle diese Faktoren begreift, wird man noch vielmehr Menschen von Exoskeletten überzeugen können.    

Ralf Schick: Dabei sollte aber die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten für die Unternehmen im Fokus stehen. Wenn der produktive Nutzen im Vordergrund steht, hat das Unternehmen nicht begriffen, dass durch die Krankheitstage der Beschäftigten auch enorme Kosten entstehen. Das Unternehmen muss daran interessiert sein, dass die Beschäftigten gesund sind und bleiben, um die Arbeit länger ausführen zu können. Dabei können Exoskelette unterstützen und die Arbeitsqualität, etwa bei Überkopfarbeiten, steigern. Aber beim Thema Produktivität bin ich vorsichtig. Das klingt sehr danach: ‚Mit einem Exoskelett kannst du jetzt 120 statt 100 Pakete in der Stunde handeln.‘ Und der Beschäftigte ist abends genauso müde und erschöpft wie vorher ohne Exoskelett. 

Sönke Rössing: Ich gebe Ihnen recht. Exoskelette schaffen keine Superhumans! Das ist den meisten Unternehmen bewusst. Sie investieren in Exoskelette, weil der Druck durch den Fachkräftemangel brutal ist, und es auch in Zukunft keine Warenlager ohne Menschen geben wird. Vier messbare Faktoren spielen dabei eine Rolle: Exoskelette reduzieren Fehl-tage, machen den Arbeitsplatz attraktiver und erhöhen Arbeitsqualität sowie Produktivität.

Ralf Schick: Die Erwartungen mancher Unternehmen an Exoskelette sind dabei aber zu hoch. Technische Hilfsmittel wie mobiler Hebekran, Vakuumlifter oder Hubtisch entlasten die Muskulatur der Beschäftigten zu 100 Prozent. Kran, Greifer oder Lifter können aber nicht an jedem Arbeitsplatz eingesetzt werden. Und da beginnt für mich der sinnvolle Einsatz von Exoskeletten. Sie können technische Hilfsmittel nicht ersetzen, aber diese sinnvoll ergänzen. Exoskelette erweitern sozusagen das Portfolio an Maßnahmen.

Sönke Rössing: Der entscheidende Punkt ist die richtige Auswahl des Arbeitsplatzes. Denn Exoskelette sind kein Allheilmittel. Wir müssen die Arbeitsplätze in den unterschiedlichen Arbeitswelten besser verstehen, weil nicht jedes Exoskelett zu jeder Anwendung passt. Ich bin mir auch sicher, dass sich Komfort und Nutzerfreundlichkeit in den kommenden Jahren enorm verbessern werden. Es ist aber eine gewaltige Herausforderung, den Komfort an jede Körperform anzupassen, weil jeder Mensch anders ist. Unsere Forschungslabore arbeiten sehr intensiv daran. 

Ralf Schick: Exoskelette müssen in der Anwendung flexibler werden, einen guten Tragekomfort bieten und dürfen den Anwender bei Nebentätigkeiten nicht behindern. Dann hätten wir schon viel gewonnen. Das haben auch die Studien der BGHW bestätigt. Es hat sich auch gezeigt, dass Exoskelette entsprechend den Anforderungen wirksam und leicht handhabbar sein müssen. Dann bin ich mir sicher, dass die Akzeptanz der Beschäftigten größer wird, diese zu tragen. Der Nachweis, Exoskelette könnten Muskel-Skelett-Erkrankungen und dadurch Krankheitstage reduzieren, muss allerdings noch im Rahmen von Langzeitstudien erbracht werden. [sie] 

Exoskelette reduzieren Fehltage, machen den Arbeitsplatz attraktiver und erhöhen Arbeitsqualität sowie Produktivität.

Dr. Sönke Rössing, CEO Ottobock Bionic Exoskeletons

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Ralf Schick

BGHW-Experte für Exoskelette

Leiter Sachgebiet Physische Belastungen und Fachbereich Handel und Logistik der DGUV

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